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Digitale Integrationsarbeit: „Mit Integreat wollen wir Menschen die Freiheit geben, selbstständig an Informationen zu kommen und nicht von anderen abhängig zu sein“

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Svenja Osmers, Teamleiterin des Partnermanagements für die App Integreat von der „Tür an Tür – Digitalfabrik“, gibt im Interview einen Einblick über (ihre) digitale Integrationsarbeit, den Stellenwert von Übersetzungen im Rahmen der App und die unverzichtbare Zusammenarbeit mit Übersetzungsbüros. MEINRAD unterstützt die Digitalfabrik seit 2021 mit Übersetzungen und beratenden Tätigkeiten.

Erzähle uns ein bisschen über dich, deinen Job bei der „Tür an Tür – Digitalfabrik“ und die App Integreat. 

Mein Name ist Svenja Osmers und ich bin seit 2020 bei der „Tür an Tür – Digitalfabrik“ tätig. „Tür an Tür – Digitalfabrik“ ist eine Ausgründung des gemeinnützigen Integrationsvereins „Tür an Tür“ mit Sitz in Augsburg. Wir sind wirkungsorientiert ausgerichtet. Ziel der Digitalfabrik ist es, Konzepte und Lösungen zu entwickeln und die Digitalisierung im Umfeld von Integration, Bildung, bürgerschaftlichem Engagement und benachteiligten Bevölkerungsgruppen erlebbar zu machen. Im Zuge des Jugoslawien-Krieges in den 90er Jahren hatte sich gezeigt, dass Informationen für Geflüchtete in gedruckter Form problematisch sind – Zeit und Aktualität spielen hier eine große Rolle. So ist 2015 das Projekt Integreat entstanden mit dem Ziel, Geflüchteten und mittlerweile auch generell Neuzugewanderten mehrsprachige Inhalte digital bereitzustellen und damit Sprach- und Informationsarmut schnelllebig abzubauen. Ich arbeite bei der Digitalfabrik hauptsächlich am Integreat-Projekt.   

Was sind deine Aufgabenfelder?  

Ich bin Teamleiterin des Partnermanagements. Als solche kümmere ich mich um alles, was die direkte Zusammenarbeit mit unseren Kunden – das sind hauptsächlich kommunale Verwaltungen in Deutschland – betrifft. Mein Zuständigkeitsbereich erstreckt sich vom ersten Kontakt und Beratungen über die Organisation von Workshops während der Implementationsphase bis hin zu technischem Support und der Organisation von Übersetzungen. Einfach ausgedrückt: Ich stehe unseren Kunden immer unterstützend zur Seite. 

Welche Projekte werden von „Tür an Tür“ unterstützt und welche Maßnahmen sind euch besonders wichtig? Was ist eure Vision und eure Mission? 

Unsere Vision ist es, die Kommunikation und das Verständnis zwischen den Kulturen durch digitale Lösungen zu fördern. Diese sollen die Integration vor Ort erleichtern und unterstützen. Unser Hauptaugenmerk liegt auf der Zielgruppe. Wir überlegen, welche Lösungen und Maßnahmen Geflüchteten und Neuzugewanderten dabei helfen können, sich in Deutschland besser zurechtzufinden und möchten sie dabei unterstützen, hier Fuß zu fassen. Mit Projekten wie Integreat wollen wir Menschen die Freiheit geben, selbstständig an Informationen zu kommen und nicht von anderen abhängig zu sein, indem sie ständig irgendjemanden fragen müssen. Wir verfassen jedes Jahr einen Wirkungsbericht; alles zu unserem Projekt gibt es auf integreat-app.de zu lesen. 

Wie finanzieren sich die Projekte?  

Integreat ist lizenzfrei verfügbar. Die App in die Stores zu bringen erfordert aber einiges an Know-how. Wir bieten den Kommunen eine Komplettlösung an – von der technischen Umsetzung und Verfügbarmachung bis hin zur Übersetzung der Inhalte usw.  

Hierfür schließen wir Kooperationsverträge ab, aus denen wir uns finanzieren. Wir haben etliche Inhalte, die deutschlandweit gültig sind und die wir bereitstellen, sodass die Kommunen nicht bei 0 starten. Außerdem unterstützen wir mit Marketingmaterial, Schulungen und Workshops. 

Welche Inhalte/Texte findet man in der App? 

Das ist ganz unterschiedlich und kommt auf die jeweilige Kommune an. Integreat wird von kleineren Kommunen mit wenigen tausend Einwohnern bis hin zur Millionenstadt München genutzt. München hat da natürlich ganz andere Möglichkeiten und mehr Personal. München hat beispielsweise etwas mehr als 600 Seiten in der App und deckt alle Bereiche detailliert ab, auch Freizeit, Kultur etc. Die wichtigsten Fragen sind aber überall gleich, nur die Antworten sind unterschiedlich. Dies sind Informationen zu Sprachkursen und Spracherwerb sowie allgemeine Anleitungen zu bestimmten Prozessen wie das Stellen von Anträgen. Diese finden sich in jeder App. Die Inhalte sollen die Frage beantworten: „Wie funktioniert das System in der Kommune bzw. allgemein in Deutschland?“ Wer mehr darüber erfahren möchte, kann sich selbst auf integreat.app überzeugen, was es so an Informationen gibt. 

Hintergrund ist auch der, dass die Zuständigen in der Beratung mehr Zeit für spezifischere Fragen haben und bei grundlegenden Themen auf die App verweisen können.  

Stichwort: digitale Integrationsarbeit – wie passt das zu euch und was bedeutet das genau? 

Digitalisierung finden wir heute in jedem Lebensbereich, besonders aber in der Informationsbeschaffung. Für uns ist es ganz normal, zu googeln, wenn wir etwas nicht wissen. Wenn es etwas Länderspezifisches ist, findet man die Information ohne ausreichende Sprachkenntnisse allerdings nicht oder nur schwer. Integration hat auch wesentlich damit zu tun, dass man für sich selbst zuständig sein kann und nicht abhängig ist. Und hier kommt die Bereitstellung der mehrsprachigen Informationen ins Spiel. Digital sind die Bearbeitung und der Zugriff viel einfacher. Integration lebt vom Zugang zu Informationen.  

Was sind die größten Herausforderungen in eurem beruflichen Alltag? 

Für mich persönlich ist das der (politische) Unwille, Integration angemessen zu finanzieren und zu fördern, der mitunter ankommt. Das ist von Bundesland zu Bundesland und auch von Kommune zu Kommune unterschiedlich, aber manchmal fehlen Budget und Personal. Oft hören wir:Wir finden eure Arbeit toll, wir würden das gern machen, aber…“ 

Und umgekehrt: Was belohnt eure Arbeit, woraus schöpfst du Kraft? 

Das kontinuierlich positive Feedback von unseren Partnern, also den Kommunen, mit denen wir zusammenarbeiten. Wir hören oft Lob und Dank für die freundschaftliche Zusammenarbeit und das freut uns auch dahingehend, dass wir nicht die „Dienstleister“ sind, sondern Partner, die gemeinsam an einer Sache arbeiten. Das bestärkt ungemein. Und ich persönlich kann sagen, dass das Schöne an unserer und meiner Arbeit das Gefühl ist, sozialpolitisch etwas zu bewirken. Auch wenn man am Ende des Tages nicht allen Menschen helfen kann, so zumindest vielen.  

Integrationsarbeit ist immer mit Mehrsprachigkeit, aber auch mit Sprachbarrieren verbunden wie kommt hier die Integreat-App ins Spiel? 

Die Zielgruppe von Integreat ist relativ breit. Das sind nicht nur Geflüchtete, sondern alle neu Hinzugezogenen wie auch Fachkräfte aus dem EU-Ausland. Idealerweise bekommt man als Geflüchteter / Neuzugewanderter beim ersten Kontakt mit den Behörden einen Flyer oder einen Hinweis auf die App und was man damit machen kann. Die Inhalte sind aber auch suchmaschinenoptimiert. Das heißt, man muss die App gar nicht kennen oder zwingend in Deutschland sein, um die Inhalte zu finden. Wenn sich beispielsweise eine Fachkraft aus Bulgarien auf Bulgarisch Informationen über den Aufenthalt in Deutschland besorgen will, würde sie diese Information via Google oder mit Hilfe einer anderen Suchmaschine finden. 

Mit wie vielen Kommunen arbeitet ihr zusammen? 

Wir arbeiten mittlerweile mit über 100 Kommunen zusammen, derzeit sind über 90 davon online. Das ist also ca. ein Viertel aller Kommunen in Deutschland. Im Vorjahr gab es über 3,5 Millionen Zugriffe auf die Inhalte in der App. Neben der primären Zielgruppe bedienen wir mit der App auch noch die sekundäre – die Mitarbeitenden in Beratungsstellen. Wir sehen, dass auch auf die deutschen Inhalte viel zugegriffen wird. 

Warum sind Übersetzungsdienstleistungen für euch so relevant? 

Zum einen natürlich, weil wir nur so die Inhalte der App mehrsprachig verfügbar machen können. Und zum anderen sind korrekte Übersetzungen wichtig. Besonders Rechtstexte müssen einfach richtig sein. 

Wie war die Situation, bevor ihr mit MEINRAD zusammengearbeitet habt? 

Wir haben von Anfang an mit Übersetzungsbüros zusammengearbeitet. Bei uns im Team ist niemand mit Übersetzungshintergrund. Die Übersetzungen selbst zu managen wäre ein immenser Aufwand, und das wollen wir auch gar nicht. Wir möchten den Kommunen für ihre Inhalte gute Übersetzungen zu festen Preise garantieren. Seit ein paar Jahren haben wir bei uns memoQ im Einsatz und verwalten die Translation Memorys selbst. Das ermöglicht uns mehr Kontrolle, und wir haben alle Inhalte bei uns und haben einen besseren Einblick. Man versteht auch den Übersetzungsprozess besser und kann die Partner daher besser beraten. 

Wie sieht euer Übersetzungsworkflow aus? 

Wir laden die Texte aus unserem System als XLIFF-Dateien runter und setzen das memoQ-Projekt auf. Wir übersetzen die Texte zunächst selbst mit dem Translation Memory und maschineller Übersetzung vor. Nachdem wir die Analysen erstellt haben, schicken wir sie an unsere Übersetzungspartner und fragen ein Angebot an, das von dem Übersetzungspartner direkt an die jeweilige Kommune geschickt wird. Die Kommunen entscheiden sich dann für einen Anbieter. Hier bemerken wir, dass verstärkt Machine Translation und Post-Editing gewählt wird. Aber auch rein maschinelle Übersetzungen wurden in letzter Zeit immer mehr gewünscht.   

Also ist Post-Editing für euch kein Muss mehr?  

Die Erfahrung hat gezeigt, dass es möglich ist, Übersetzungen von einfachen Inhalten für die App ohne Post-Editing zu machen. Wir haben das vorher mit Muttersprachlern getestet, die bewertet haben, ob man die Texte verstehen kann oder nicht und erhielten sehr gute Rückmeldungen. Auch die Landkreise und Kommunen haben Feedback von Muttersprachlern erhalten, dass die rein maschinellen Übersetzungen grundsätzlich gut verständlich sind und die Qualität okay ist. Das hängt natürlich auch ganz stark von der Verständlichkeit der deutschen Ausgangstexte ab. Und man muss auch sagen, dass nicht jede von uns benötigte Sprache überhaupt von MT-Tools abgedeckt wird

Welchen Vorteil seht ihr an der Arbeit mit einem Übersetzungsbüro vs. selbstständig Dienstleister zu beschäftigen?  

Wir sind keine Übersetzer oder Übersetzungsmanager und wollen das auch nicht sein. Hierfür braucht es Professionalität und einen ausreichenden Pool an Übersetzern sowie das entsprechende Wissen. Neben den Übersetzungen ist uns auch Hilfe und Beratung, zum Beispiel bei memoQ-Problemen, sehr wichtig. Wir schätzen hier den Support sehr. Es ist wertvoll, jemanden an der Hand zu haben, der sich bei allen übersetzungsrelevanten Fragen auskennt, wie das zum Beispiel beim Aufbau der Termdatenbank der Fall war, den wir gemeinsam mit MEINRAD umgesetzt haben. Es war wichtig für uns zu wissen, dass wir uns bei Fragen jederzeit an MEINRAD wenden können.  

Welche marginalisierten Sprachen sind euch bereits untergekommen, und welche Sprachkombinationen sind die häufigsten?  

Wir lassen immer aus dem Deutschen übersetzen und haben derzeit mit rund 25 Sprachen zu tun. Am wenigsten vertreten sind Somali, Albanisch, Tigrinisch und Amharisch; verstärkt benötigt werden hingegen osteuropäische Sprachen wie Bulgarisch, Ukrainisch und Rumänisch. 

Glaubst du, dass KI-Systeme wie Chat-GPT in Zukunft Texte für die App erstellen und übersetzen werden?  

Ich denke, hier muss man äußerst vorsichtig sein. Die Informationen für unsere vulnerable Zielgruppe müssen richtig sein, und aus meiner Erfahrung ist Chat-GPT manchmal äußerst kreativ beim Hinzufügen von unrichtigen Informationen. Das darf natürlich nicht sein. Daher finde ich, dass man die Texte selber schreiben muss. 

Vielen Dank für das Interview!

 

Titelbild © Picture People

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