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Warum die eigentliche Über­­setzung nur die Spitze des Eis­­­bergs ist

Geschrieben von Meinrad Reiterer | 16. September 2019

Es ist ein Problem, das typisch für die Über­­setzungs­­branche ist: Für den Kunden zählt meist nur das Ergebnis – und natürlich der Preis. Doch hinter dem Über­­setzungs­­prozess steckt viel mehr. Unsere In-House-Linguistin und Projekt­­managerin Julia Wuggenig hat sich vorgenommen, genau diesen Prozess sichtbar zu machen.

Diskrepanz zwischen Kundenperspektive und Wirklichkeit 

„Ach wirklich, das steckt alles dahinter?” – überraschte Blicke und erstaunte Ausrufe gehörten wohl zu den häufigsten Reaktionen, die Julia Wuggenig im Rahmen der Erarbeitung ihrer Masterarbeit erhielt, während dieser sie mit Kunden von MEINRAD Gespräche über den Übersetzungsprozess führte. Das zeigt: Zwischen dem, was während des Übersetzungsprozesses geleistet wird und dem, was der Kunde wahrnimmt, liegt ein tiefer Graben. Mit ihrer Masterarbeit hat Julia begonnen eine Brücke darüber zu bauen. Das Ziel dabei war, die zahlreichen Arbeitsschritte bei der Übersetzung aufzuzeigen, die für den Kunden normalerweise unsichtbar sind.

Der Preis ist nicht alles

Die meisten Kunden entscheiden sich häufig aufgrund des Preises für einen Übersetzungsdienstleister – und das ohne die Qualität der Arbeit tatsächlich beurteilen zu können. Denn im Gegensatz zum Einkauf eines Produkts ist es bei der Übersetzungsdienstleistung schwieriger, die Qualität zu bewerten. Wer die Zielsprache nicht kennt, muss quasi blind auf die Richtigkeit des Ergebnisses vertrauen. So wird meist das zum Auswahlkriterium, was direkt sichtbar ist: Der Preis. Umso wichtiger ist, zu verdeutlichen, wie die Kosten zustande kommen und zu zeigen, dass der Preis eben nicht alles ist. 

Unsichtbares sichtbar machen

Dieser Aufgabe hat sich Julia Wuggenig angenommen. Julia begann bereits während ihres Masterstudiums mit ihrer Arbeit bei MEINRAD. Dabei fiel ihr eine Sache immer wieder auf: Kunden, die nicht aus der Übersetzungsbranche kommen, wissen meist gar nicht, was zum Übersetzungsprozess eigentlich dazugehört. Diese unsichtbaren Arbeitsschritte wirken sich deutlich auf die Qualität der Übersetzung aus. Dazu gehören beispielsweise: 

Doch Arbeitsschritte, die im Hintergrund ablaufen, liefern keine Grundlage für den Nachweis der Qualität und damit die Rechtfertigung des Preises. Aus diesem Grund bemerkte Julia schnell, dass hier noch Forschungs- und Handlungsbedarf besteht. Im Rahmen ihrer Abschlussarbeit entwickelte sie daher einen so genannten „Service Blueprint” für den Übersetzungsprozess. Dieses Tool stammt ursprünglich aus der Wirtschaftswissenschaft und ermöglicht, Verbesserungspotenziale in der Dienstleistungsbranche aufzuzeigen. 

Der von Julia entwickelte Service Blueprint bildet Folgendes ab: 

1. Für den Kunden sichtbare Arbeitsschritte

  • Die Kundenaktivitäten: Diese oberste Ebene ist die sprichwörtliche Spitze des Eisbergs: Alles, was der Kunde tatsächlich vom Übersetzungsprozess mitbekommt, spielt sich hier ab. Konkret sind das die klassischen „Touchpoints”, also die Berührungspunkte mit dem Übersetzungsdienstleister: Der Kunde stellt eine Anfrage, erhält ein Angebot und am Ende steht das Ergebnis. 
Die Front-Stage-Interaction: Die Kundenaktivitäten werden durch die „line of interaction” von den Front-Stage-Interaktionen getrennt: Hier agieren die Mitarbeiter, die mit dem Kunden aktiv in Kontakt stehen und alle Prozesse mit ihnen gemeinsam durchlaufen. Zu diesen Aktivitäten gehören die Angebotslegung, die Beantwortung von Rückfragen und die Lieferung des fertigen Projekts.

2. Im Hintergrund ablaufende Prozesse
  • Die Back-Stage-Interaction:  Hier beginnt der unsichtbare Prozess, der wortgetreu durch die line of visibility” abgetrennt wird. Denn hier werden alle Schritte aufgezeigt, die der Kunde nicht mitbekommt. Jeder von ihnen ist jedoch notwendig, damit die Front-Stage-Interaktionen und somit das gesamte Projekt reibungslos ablaufen können. Diese Arbeitsschritte reichen von der Zuweisung des Auftrags zum entsprechenden Projektmanager über die Vorbereitung und Analyse der Dateien sowie der  Suche und Auswahl eines geeigneten Übersetzers bis hin zur Terminologie- und Layoutarbeit.
  • Unterstützungsprojekte: Darüber hinaus sind am Übersetzungsprozess zahlreiche verborgene Arbeitsschritte beteiligt, die als Fundament die Voraussetzungen dafür schaffen, dass das Unternehmen überhaupt existieren kann. Dazu gehört zum Beispiel die Arbeit des Localization Engineering Teams, das unter anderem für die oft aufwendige Datenaufbereitung zuständig ist und dafür sorgt, dass alle Software-Prozesse reibungslos ablaufen.

Transparenz auf allen Seiten 

Das Diagramm ermöglicht es, den Kunden jeden einzelnen Schritt des komplexen Übersetzungsprozesses übersichtlich aufzuzeigen. So können Verständnisprobleme sowohl auf Projektmanager- als auch auf Kundenseite abgebaut werden. Dies beginnt schon bei der Angebotserstellung: Durch Julias Masterarbeit steht jetzt nicht mehr nur der Preis als einziger Indikator für die Qualität der Arbeit im Angebotsformular, sondern auch die komplexen Arbeitsschritte, die hinter der Übersetzung stehen. Das hat nicht nur Vorteile für den Übersetzungsdienstleister, sondern auch für den Kunden, der nun nicht mehr die „Katze im Sack” kaufen muss. Auch technischen Redakteuren, die auf der Suche nach einem neuen Übersetzungsdienstleister für ihr Unternehmen sind, bietet dies eine hilfreiche Argumentationsstütze.

Unser Ziel: Das Leben und Arbeiten hinter der Übersetzung zeigen 

Gerade in Zeiten von Digitalisierung und Machine Translation, bietet der Service Blueprint noch eine weitere entscheidende Möglichkeit. Der anonymen und in den Augen vieler scheinbar „automatisch” ablaufenden Übersetzung wird die Maske genommen und gezeigt: Hinter dem Endergebnis stehen Menschen, die mit vollem Einsatz am Prozess beteiligt sind. Ein Bewusstsein dafür zu schaffen und den tatsächlichen Wert der Dienstleistungen zu offenbaren, legt MEINRAD nicht nur Übersetzungsdienstleistern, sondern der gesamten Dienstleistungsbranche ans Herz.

 

Die im Text gewählten personenbezogenen Bezeichnungen sollen sich ausdrücklich auf alle Geschlechter in gleicher Weise beziehen. Soweit im Text die männliche Form gewählt wurde, geschah dies aufgrund der besseren Lesbarkeit. Hintergründe zu unserer Entscheidung finden Sie in unserem Artikel So lebt MEINRAD das Thema Gleichberechtigung und gendergerechte Sprache.

Titelbild: © MEINRAD